Kurz vor der Katastrophe

Das eigenwillige Werk von Birgit Brenner in der Kunsthalle Tübingen

Die Geschichten, um die es in der Ausstellung „Für immer und ewig“ geht, fangen beispielsweise so an: Dass ein Mann eine Frau sucht, „für Sauna, evtl. auch Sex“. Er sitzt im Rollstuhl, sie sollte „große Brüste haben“. Die Kontaktanzeige ist erfolgreich. „Es ist Liebe. Sie wohnt in einem anderen Land“, heißt es zum Auftakt der Ausstellung von Birgit Brenner, die auch davon handelt, wie fragil das Glück ist. „Irgendwann“, heißt es bald, „war das Geld weg, die Stimmung auch.“

Die Berliner Künstlerin Birgit Brenner, Jahrgang 1964, setzt in ihren Installationen konsequent auf Erzählungen, auf Katastrophenszenarien und Beziehungskrisen, Unglücke, Todesfälle. In der Kunsthalle Tübingen hat sie über mehrere Säle hinweg den sozialen Abstieg eines ungleichen Paares inszeniert, als eine Art begehbares Storyboard. Screenshots von Teleshopping-Sendungen hängen wie Pullis auf der Stange. Aus Pappe geschnitzte Autoreifen brechen aus dem Bildgrund heraus. Die heterogenen Wandobjekte, Zeichnungen und verblichenen Fotografien fügen sich zu einem Plot, einer Tragödie jenseits der Sprache. Brenner liefert zwar einzelne Textbausteine, aber letztlich ist es das Material selbst, das die existenziellen Befindlichkeiten der Protagonisten auserzählt und die Atmosphäre ihrer Lebenswelt erfahrbar macht. Schroffe, grob durchstoßene Pappe erinnert an die Brüchigkeit ihres Seins, Goldlasur an die Flucht in Tand und Talmi.

Birgit Brenner, die seit fünf Jahren als Professorin an der Staatlichen Kunstakademie in Stuttgart lehrt, weiß um kunsthistorische Traditionen und Innovationen, ihre Collagen und Objekte erinnern hier an die Surrealisten, dort an Imi Knoebel oder Bruce Nauman. Trotzdem sind sie höchst eigenständig und entziehen sich einer formalen Kategorisierung. „Kurze Kurzfilme“ oder „Vorschlag“ nennt Brenner selbst diese skulpturalen Storyboards, in denen sie die Artefakte in rhythmische Folge bringt. Sie inszeniert harsche Schnitte und einen Countdown wie im Film, mit Hinweisen wie „noch 0:03 Minuten“.

In Tübingen hat sich Brenner zum ersten Mal aber auch an eine große, klassische Bildhauerarbeit gewagt und aus weißen Pappstreifen einen Lkw in Originalgröße nachgebaut, den Lkw, der den Helden ihrer Erzählung in den Rollstuhl brachte. Die Installation, die eigens für die Kunsthalle entstanden ist, wird flankiert von Zeichnungen und Collagen auf Din-A4-Blättern, die wie eine Fingerübung entstehen und Brenners virtuosen Umgang mit dem Material demonstrieren. Sie zeichnet mit Kugelschreiber, näht auf Fotografien oder macht Scherenschnitte, sie druckt Sätze gestochen scharf oder rubbelt Buchstaben aufs Blatt. Sie kopiert Muster von Orientteppichen oder schnitzt aus Pappe niedliche Wohnzimmermöbel, was auf soziale und zeitliche Kontexte anspielt, Stimmungen und Assoziationen verschiedener Lebenswelten hervorruft.

Immer wieder formuliert sich da die Angst vor dem sozialen Abstieg, der Moment, in dem sich Abgründe in der bürgerlichen Ordnung auftun und die Träume von Glück und Konsum zu platzen drohen. Brenner legt die existenzielle Dimension des Alltäglichen frei und konstruiert dabei enorme Fallhöhe von der Querschnittslähmung zur Motte im Küchenregal. Auf einer Collage kommentiert sie ein Interieur mit Schrankwand, Designerlampe und Poggenpuhl-Küche mit den Vermerken „auch hier wird gestorben“ und „rote Augen und Rotz. Auch hier wird geprügelt.“

Die Welt der Birgit Brenner steckt voller Gemeinplätze, Klischees und Geschlechterstereotypen: Die Frau aus Fernost verschleudert das Geld beim Teleshopping. Der Mann schaut zu: „Das Gehorchen braucht Zeit. Das sagt er sich.“ Brenner scheut sich nicht, große menschliche Tragödien mit Banalitäten, Plattitüden und Allzumenschlichem zu verbinden, so, wie sich ihre radikalen, sperrigen Collagen ebenfalls stets auf der Kippe bewegen: Mit virtuosem Handwerk erzeugt Brenner höchste Sinnlichkeit und verhehlt doch nie, dass es nichts als stumpfe Panzerpappe, eben Trash ist. Und auch wenn die Künstlerin, die seit vielen Jahren von der Galerie Eigen + Art vertreten wird, längst ihren Markt gefunden hat, sind ihre raumgreifenden Inszenierungen doch flüchtige Momentaufnahmen, für den Ort geschaffen und ohne Anspruch auf museale Ewigkeit. So könnte es gut sein, dass die aufwendige Inszenierung samt Papp-Lkw nach der Ausstellung in der Tonne landet. „Mir ist nicht so wichtig“, sagt Brenner, „was danach passiert.“  ADRIENNE BRAUN

Süddeutsche Zeitung, 18.Juli 2013

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