Eindrücke einer Jurorin

Sich subjektiv berühren lassen

Ob Kunstprofessoren, Museumsleute oder Kritiker – alle haben sie die Weisheit mit Löffeln gefressen. Man weiß, was Qualität ist, entlarvt die Adepten sofort und erkennt zielsicher Talent. Wenn Kunstexperten in einer Jurysitzung aufeinanderprallen, kann es allerdings ungemütlich werden, denn natürlich ist die eigene Expertise höchst fragwürdig, natürlich hat Kunst auch viel mit Geschmack und subjektiven Kategorien zu tun. So stellt man sehr schnell fest, dass in einer Jury nicht nur die Kunst bewertet wird, sondern auch man selbst. Es gilt, Farbe zu bekennen, zu argumentieren – und kann sehr einsam sein, sich für ein Werk zu engagieren, das von den anderen in der Luft zerrissen wird.

Diese Erfahrung muss man als Jurorin desw Kunstpreises so gesehen nicht machen, denn Kunst von Menschen mit Psychiatrieerfahrung macht es einem besonders schwer: Was will man hier bewerten? Soll man die Arbeiten von Menschen, die sich vielleicht erst seit wenigen Jahren mit Kunst beschäftigen, tatsächlich messen am musealen Kunstbetrieb? Kann man ein Bild, bei dem jemand in erster Linie seine inneren Nöte auszudrücken versucht, tatsächlich vergleichen mit radikaler l’art pour l’art, wie man sie etwa auf der Art Basel sieht?

Natürlich nicht. Auch wenn der Kunstbetrieb dazu neigt, seine Kategorien für absolut zu halten, muss so viel Differenzierung schon sein und darf man nicht alle künstlerischen Formen mit denselben Maßstäben betrachten. Das war die wichtigste Erfahrung für mich,

dieses enge Korsett des bornierten Kunstbetriebs einfach mal abzulegen und frei und unvoreingenommen zu spüren, was diese vielen verschiedenen Künstlerinnen und Künstler hier zum Ausdruck bringen, wie sie ihre Situation spiegeln und ganz eigene Bildsprachen dafür finden. Plötzlich spielt es keine Rolle mehr, ob jemand gegenständlich oder abstrakt arbeitet oder vielleicht sogar ein Bild kopiert. Entscheidend ist, wie eigenständig dies geschieht und ob die Form den oft existenziellen Themen entspricht – unabhängig von Moden, Stilen, Ismen.

Und so habe ich bei dieser besonderen Jurytätigkeit vor allem etwas über mich gelernt: Ich muss mir als Kritikerin nicht vormachen, objektiv über Kunst zu sprechen. Das Schöne an der Beschäftigung mit der Kunst doch ist, das sie Gefühle auslösen kann – subjektiv und intensiv. ADRIENNE BRAUN

aus: so gesehen. Kunstpreis 2015 des Landespsychiatrietages
Publikation zur Ausstellung so gesehen
Herausgeber: Liga der freien Wohlfahrtspflege in Baden-Württemberg e.v