„Ich habe kein Herz! No Herz!“

Jugenddrama  Das Junge Ensemble Stuttgart hat mit Flüchtlingskindern ein Theaterstück gemacht – über ihre Schicksale und den Neubeginn in Deutschland. Von Adrienne Braun

 

Man sieht ihm den Frust an. Da steht Tobias Metz nun und wollte stolz seine kleine Schar junger Schauspielerinnen und Schauspieler präsentieren. Die Proben in den vergangenen Wochen liefen richtig gut. Das Stück bekam Zug. Und jetzt ist Zaid nicht gekommen. Schon wieder nicht. Manchmal braucht Tobias Metz eben ein dickes Fell. Er ist seit vielen Jahren Theaterpädagoge. Er kann gut mit Kindern und Jugendlichen umgehen, aber das kleine Team, mit dem er zurzeit im Jungen Ensemble Stuttgart (Jes) probt, ist anders, ist besonders. Auf der Bühne stehen Syrer, Iraker, Kurden, Jugendliche, die als unbegleitete Flüchtlinge nach Deutschland kamen, die nach langen Irrfahrten mit Bussen, Schiffen, Zügen schließlich in Stuttgart in einem Flüchtlingsheim strandeten, um ein neues Leben anzufangen – ohne Krieg, ohne Angst, ohne ständige Bedrohung.

Die Erinnerungen begleiten die Mädchen und Buben trotzdem Tag für Tag. „Mein Herz ist vergraben in einem Friedhof auf einem Berg neben meinen Freunden“, sagt Lauin und balanciert auf der Leiter. Der Sechzehnjährige ist einer der Schauspieler, mit denen Tobias Metz seit knapp einem Jahr probt. Er hat Jugendliche angesprochen in sogenannten Vorbereitungsklassen, in denen die Neuankömmlinge erst einmal das Nötigste für das Leben in Deutschland lernen. Vor allem die Sprache. Doch, Lauin kann bereits etwas Deutsch. Meistens traut er sich aber nicht, es zu sprechen, er lässt lieber die anderen übersetzen. Jetzt aber steht Lauin sehr ernst im Probenraum, blickt sehr konzentriert in die Ferne und sagt leise: „Ich habe kein Herz! No Herz!“

Lauin ist in Syrien aufgewachsen, wo er zur kurdischen Minderheit gehörte. Ihr ist es verboten, ihre Sprache zu sprechen, ihren Kindern kurdische Namen zu geben, kurdische Bücher oder Schriften zu veröffentlichen. „Wir sind beleidigt und geschnitten worden“, erzählt Lauin. Er war drei Monate allein unterwegs, war in der Türkei, in Griechenland, bis er in Stuttgart in einem Wohnheim landete. „Zwölf Personen in sechs Betten“, erzählt er, „ich habe nur geheult.“ Inzwischen ist seine Familie wieder vereint und lebt in Bad Cannstatt.

„Was ist dein Gefühl?“, fragt Tobias Metz. „Geht euren Gefühlen nach“, sagt er immer wieder bei der Probe. Es ist an sich schon mühsam, mit Laien professionelles Theater zu machen, ihnen beizubringen, laut zu sprechen, die Spannung zu halten, auf Sätze zu reagieren, als hörten sie sie zum ersten Mal. Aber mit diesem Spielclub betritt auch Metz Neuland. Er hat schon häufig Stücke mit Kindern entwickelt. Aber die Geschichten und Erlebnisse der Flüchtlingskinder wiegen schwerer. – „Salzherz“, das heute Abend im Jes unter dem Tagblattturm in Stuttgart Premiere haben wird, spiegelt wider, was die Flüchtlingskinder bei der Ankunft in Deutschland erlebt haben, wie es war, auf dem Bolzplatz zu stehen zwischen Fremden, wie sie erste Kontakte knüpften.

Dazu sollten die Jugendlichen zunächst ihre Gedanken aufschreiben zu Themen wie Liebe, Eifersucht, Angst, Traum. Manche haben auch Bilder gemalt. Die renommierte Autorin Reihaneh Youzbashi Dizaji, die als Kind selbst mit ihrer Familie aus dem Iran geflohen ist, hat aus den Texten und Bildern das Theaterstück „Salzherz“ verfasst, „ein Stück, das mit wenigen Worten auskommt und in dem viel zwischen den Zeilen passiert“, wie Tobias Metz sagt.

Denn über vieles wollten, konnten sie nicht sprechen. „Es gibt Sachen, die ich nicht sagen kann und die ich für mich behalte“, sagt Lauin. „Wenn ich mich jemandem anvertraue, wird er mich vernichten, weil es so schlimm ist.“ Über das Theaterstück verrät Lauin indirekt doch, was er in Syrien erlebt hat: „Ich konnte meine Freunde sehen, dann hab ich sie von meinem Fenster im Friedhof gesehen“, heißt es im Stück. „Jetzt bin ich hier und sehe einen Friedhof in meinen Träumen.“ Er musste vermutlich mit anschauen, wie mehrere seiner Freunde getötet wurden.

Auch Tobias Metz weiß nicht genau, welche Traumata seine Akteure im Gepäck haben, aber er ahnt es. Auf der Probe gab es häufiger Tränen, manchmal wurden die Jungs auch plötzlich aggressiv – und Metz merkte, wie er selbst an Grenzen kam, schließlich ist er Regisseur, nicht Therapeut. „Das ist eine psychologische Arbeit.“ Er hat versucht, die Gefühle der Jugendlichen in das Stück einzuarbeiten, über das Spiel Aggression oder Trauer bewusstzumachen – gerade bei den Jungs, denen es so schwerfällt, die eigenen Gefühle auszuhalten. „Sie sind sehr vorsichtig, auch gegenüber der Welt“, sagt Tobias Metz. „Sie verstecken viel hinter einem männlichen Habitus und wollen nicht viel von sich selbst preisgeben.“

Payman hat ihm immer wieder die eine Frage gestellt: Warum sie in der Schule allein im Pausenhof stehen muss. „Ich bin doch ein ganz normales Mädchen“, sagte sie zu Metz, „warum spricht niemand mit mir?“ Payman ist eine wache, kluge junge Frau, bei der man sofort spürt: sie wird sich durchs Leben boxen, sie bekommt das hin. Sie stammt aus dem Irak, wuchs in der steten Furcht vor Anschlägen auf. „Es war Krieg, und man hatte immer Angst, dass man sterben könnte“, sagt sie. Als ihr Onkel ums Leben kam– „da habe ich entschieden, stark zu sein und erwachsen zu werden“. Da war sie noch nicht mal zehn.

Als Payman vor zwei Jahren als damals 14-Jährige nach Deutschland kam, war es ein Kulturschock. „Die Menschen sind anders, die Sprache ist anders, die Häuser bei uns waren klein und aus Lehm“, erzählt sie. „Ich komme aus einem Dorf, da gab es nicht einmal Ampeln.“ Auch Payman kam in eine Vorbereitungsklasse, da sie aber sehr schnelle Fortschritte machte, durfte sie bereits nach wenigen Monaten in die Regelschule wechseln. „Plötzlich haben alle perfekt Deutsch gesprochen, und ich habe nichts verstanden“, erzählt sie. Sie litt, war einsam, zog sich zurück – und hat sich doch durchgekämpft und eingelebt. „Jetzt ist es sehr schön in der Klasse.“

In den Spielclub im Jes ist Payman gekommen, um ihr Deutsch noch zu verbessern. Aber sie hat schnell bemerkt, dass es hier um mehr geht als nur darum, Theater zu spielen. Auch ihre Erinnerungen, ihre Ängste und Verletzungen stecken jetzt in „Salzherz“ – und ihr ist das Herz dadurch etwas leichter geworden. „Es hilft, wenn man eine Person hat, die zuhört und die einen versteht“, sagt Payman.

Lauin erhofft sich von seinem Einsatz bei „Salzherz“ noch etwas ganz anderes. Er will Schauspielerwerden– „so wie Tom Cruise“. In Syrien gab es kein Theater, Fernsehen aber hat er immer schon gern geschaut. Die Familie hat ihn ausgelacht, wenn er mit den Figuren mitgelacht, mitgelitten, mitgespielt hat. Er wolle sich nur wichtig machen, haben sie gesagt. Ihnen – und sich – will er heute Abend bei der Premiere beweisen, dass es ihm mit der Schauspielerei ernst ist.

„Ich vermisse mein Land, weil ich meine Freunde vermisse“, heißt es einmal in „Salzherz“. Ihr erstes eigenes Stück in einem deutschen Theater hat den Jugendlichen geholfen, sich in Stuttgart etwas mehr zu Hause zu fühlen. Die Erinnerung an ihre Heimat begleitet sie trotzdem tagtäglich – und oft auch in den Nächten. Kürzlich hat Lauin geträumt, dass Polizisten seinen Freund getötet hätten. „Ich bin gerannt und gerannt und aufgewacht und war glücklich und dachte: Gut, dass ich in Deutschland bin.“

Stuttgarter Zeitung, 8. November 2013

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