Gelungen: Clemens Meyers Roman „Im Stein“ in Stuttgart
Der Ecki kennt sich aus mit Frauen. Hammerbräute und Vollweiber hat er durchprobiert, „Puszta-Pussies“ und die Ariella vom Balaton. Jetzt ist er wieder auf Sendung und posaunt ins Mikrofon: „Auch ein Quickie ist mal schickie!“ Ecki ist eine der finsteren Nachtgestalten von Clemens Meyer. Der 1977 in Halle an der Saale geborene Senkrechtstarter des Literaturbetriebs erzählt in seinem 2013 erschienenen Roman „Im Stein“, wie das Prostitutionsgesetz in den neuen Bundesländern Zuhälter zu Immobilienmaklern macht und Elendsbordelle zu florierenden Wirtschaftsunternehmen mit Steuernummer. „Es ist ein Geben und Nehmen“, heißt es da, „wie in anderen Geschäften auch.“
Dem Schauspiel Stuttgart sind in den vergangenen Monaten gleich mehrere Literaturadaptionen gründlich misslungen. Nun hat sich Sebastian Hartmann ausgerechnet „Im Stein“ vorgenommen, diesen sperrigen, mäandernden Nachtgesang, für den er aber eine kluge Übersetzung gefunden hat, die mit herkömmlichem Theater allerdings nichts mehr zu tun haben will.
Auf der Bühne des Schauspielhauses dreht sich eine große Kiste, deren abgründiges Innenleben auf die Außenwände projiziert wird. Nur selten tauchen in dieser vierstündigen Odyssee die Schauspieler leibhaftig auf der Bühne auf – um sofort wieder zu verschwinden in dieser Wunderkiste, die nicht mehr Bühnenbild ist, sondern Leinwand. Großes Kinotheater.
Meyer hat sich in seinem weit ausholenden Roman von Hubert Fichte und Grimms Märchen inspirieren lassen, von Wolfgang Hilbig und Karl Marx. Er arbeitet mit Zeitsprüngen und Perspektivwechseln und verbindet die Geschichten der Luden und Leichen, Huren und Engel nur durch „Silberfäden“ miteinander, wie Meyer das nennt. Für ihn sind es wie einem Stein eingeschriebene Erzählungen.
Hartmann macht daraus ein mitreißendes Wechselbad der Emotionen. Begleitet von einem musikalischen Crossover zwischen Richard Wagner und Sinead O’Connor, Orgelspiel und Pop, wechseln die Perspektiven und Räume der projizierten Bilder permanent. Es ist eine surreale Reise, die vom Hades zum Olymp führt, vom Safer Sex zur Seelenschau. Hier säuselt die Hure im sächsischen Puff: „Ach mein Gutster, ich mach ihn dir ratzfatz wieder hart.“ Dann wieder rezitiert Abak Safaei-Rad als Liebesgöttin das Hohelied Salomons: „Mein Kopf ist voll Tau / aus meinen Locken tropft die Nacht.“ Flüchtig scheinen Menschenhandel, Kinderprostitution, Zuhälterei auf, aber es geht vor allem um die Gewalt der Straße und des Milieus.
Manchmal mag man kaum glauben, dass in dieser auf der Drehbühne kreiselnden Kiste tatsächlich live und leibhaftig Theater gespielt wird, so virtuos fangen die Handkameras die Szenen ein. Aufnahmen werden wie im Delirium überbelichtet, verdoppelt, verzerrt, es werden die Ästhetik des Film noir, Fassbinder und der „Tatort“ zitiert, manchmal auch parodiert. Immer wieder werden zwischen die Live-Aufnahmen auch Altmeistergemälde montiert – Engelsturz, die Enthauptung des Johannes, Caravaggios kecker „Amor als Sieger“ –, selbst wenn in dieser Unterwelt eines sicher nicht zu haben ist: Liebe.
Hartmanns dichte Multimedia-Collage ist eine überzeugende Antwort auf die Vielstimmigkeit des Romans und dabei auch ein ästhetisch ambitioniertes Bühnenexperiment. Meyer verzichtet auf eine lineare Erzählung, in der Theaterversion sind aber selbst seine zentralen Handlungsfragmente kaum mehr nachvollziehbar, die politischen und ökonomischen Aspekte der Prostitution treten in den Hintergrund. Und auch Meyers Figuren verschwimmen – der Rotlichtkönig Arnold Kraushaar, der alte Kommissar, der abgewrackte Ex- Jockey sind noch weniger greifbar als im Buch. Hartmann macht aus der Vorlage vielmehr einen zeitlosen Klagegesang aus dem Totenreich. Schmerzhaft klingt das Wimmern der Kreaturen, die zu endlosen Qualen verdammt sind – wie Hans, der seine untergetauchte Tochter sucht. „Der Hans, der kann’s“, beschwört der brillante Horst Kotterba immer wieder, aber Hans kann das Saufen längst nicht mehr lassen.
„Ich will nie wieder liegen, nie wieder unten sein“, sagt eines der freudlosen Freudenmädchen (Sandra Gerling) einmal. Aber aus diesem endlos vorwärtstreibenden Albtraum gibt es kein Entrinnen. Hier sind alle Täter und Opfer zugleich und scheinen auf ewig eingesperrt in diese Kiste, in der sie die Kälte mit schnellem Sex zu vertreiben suchen.
Nach so vielen gescheiterten Anläufen im Schauspiel Stuttgart endlich ein Aufatmen: Romanadaptionen beweisen häufig nur die Begrenztheit des Theaters, Sebastian Hartmann aber reißt einen fort mit einem furiosen Höllenritt, brutal, direkt und schmerzhaft. ADRIENNE BRAUN
Süddeutsche Zeitung, 22.04.2015