Selbsterfahrung auf glühenden Kohlen / Von Adrienne Braun
Bist du wahnsinnig?“ sagen die Freunde, „na, Sie machen ja Sachen!“ meinen die Kollegen kopfschüttelnd. Aber warum denn nicht? „Ich kann es“ steht schließlich im Prospekt und dass man in Zukunft all das schaffen wird, was man nie für möglich gehalten hätte. Grenzen überschreiten, Zweifel und Ängste über Bord werfen, den Alltag transformieren. Wollen wir das nicht alle? Christiane Boustani macht es möglich. Samstagmittag in Sterup, einem Nest in der Nähe von Flensburg. In Boustanis Esszimmer sitzt eine Gruppe Fremder um den Tisch und stochert nervös im Kuchen. „Ich träume seit Tagen davon“, sagt Monika, „jetzt will ich es endlich schaffen.“ Uli hat es schon einmal probiert, Mona ist sich sicher, dass sie es nicht tun wird. Ein Seminar für Feuerlauf. 80 Euro, barfuß über glühende Kohlen gehen – und die Welt steht uns offen.
Behauptet zumindest Christiane Boustani. Manager tun es inzwischen, Uschi Glas hat es gewagt, Firmen schicken ihre Mitarbeiter zum Effektivitätstraining mit Feuerlauf. Also kann es so schwer doch nicht sein.
„Wir sagen hier alle du“, erklärt Boustani und reicht die Sahne weiter. Sie ist eine muntere, bodenständig wirkende Person, arbeitet als Heilpraktikerin und bietet Seminare an, in denen man seine innere Schöpferkraft wieder entdecken soll. „Wenn ich durch das Feuer gegangen bin, kann ich im Leben alles bewirken, was ich will“, sagt sie und erklärt, dass Deutschland das im Moment dringend nötig hat. „Wir brauchen Menschen, die sich wieder begeistert dem Leben zuwenden.“ Das denkt Uli aus Münster auch. Er kann es nicht mehr hören, wie die Leute zetern, dass sie eines ihrer Autos verkaufen müssen. Alle nicken, er hat ja Recht.
Natürlich kann man nicht aus dem Stand über glühende Kohlen laufen. Deshalb müssen wir zunächst Übungen machen. Durch den Raum gehen, uns kennen lernen. Einen Partner suchen, ihm schweigend ins Gesicht schauen und später mitteilen, was man dabei über sich erfahren hat. Nachdem wir auf Zettel geschrieben haben, welche Ängste wir überwinden wollen, geht es hinaus aufs Feld, hinaus in die eisige Nacht. Die Mitarbeiterin von Boustani ist heute die Feuerfrau und hat schon einen Scheiterhaufen errichtet.
Müde beginnt das Feuer zu brennen, während wir auf Tamburine schlagen, wie Indianer um den Holzhaufen laufen und singen. „Feuergeist, Feuergeist, ich bin dein“, und „kleine Flamme, kleine Flamme, zünd mein Feuerholz an.“ Eine Runde nach der andern holpern wir über den Acker, hauen mit klammen Fingern auf die Instrumente, „Feuergeist, Feuergeist“ und später „Mother I hear you under my feet“ und „Heja, heja, ho“.
Als das Feuer endlich brennt, müssen wir nacheinander unsere Ängste und Sehnsüchte vorlesen und die Zettel ins Feuer werfen. Monika will die Angst überwinden, nicht richtig geliebt zu werden, Carina will sich besser zur Wehr setzen, Uli hofft, eine Arbeit zu finden. Und Michael, der bestenfalls vierzig ist, sagt, dass er seine Krankheit besser ertragen und den Mut haben will, Abschied nehmen zu können. Plötzlich stehen alle betroffen ums Feuer und lassen die Tamburine hängen, und ich schäme mich für unsere ganzen albernen Wünsche und dass ich nassforsch überlegt hatte, ob ich vielleicht Chefredakteurin oder Päpstin werden will. Einer nach dem andern schleicht sich davon, nur Michael und sein Freund Uli stehen noch lange da, halten sich weinend in den Armen.
Zurück im Seminarraum malen wir, was wir im Feuer gesehen haben. Mona zeichnet eine Frau auf dem Scheiterhaufen, die elfjährige Laury eine fröhliche Stichflamme, ihre pubertierende Schwester ein rosa Herz – und Michael einen Totenkopf. Als wir darüber reden, umschiffen alle Michaels Schicksal, jeder ist mit sich selbst beschäftigt und mit der Furcht vor dem, was kommen wird.
Boustani macht nur eine Bemerkung, und wir werden bleich wie Mehl: die Kohlen hätten eine Temperatur von 600 bis 800 Grad, je nach Holzsorte. Das sitzt. Unweigerlich stelle ich mir vor, wie sich die Glut in die Fußsohlen hineinfrisst, wie ich schreiend über den nassen Acker renne und im Nichts der Nacht verbrenne. Nimm Brandsalbe mit, hatte eine Freundin gesagt, und ich verfluche mich, nicht auf sie gehört zu haben.
Die Hummel, sagt Boustani, hat bei 1,2 Gramm Körpergewicht eine Flügelfläche von 0,7 Quadratzentimetern. Nach den Gesetzen der Flugtechnik kann sie gar nicht fliegen. „Aber die Hummel weiß das nicht“, sagt Boustani, „sie fliegt einfach.“ Aufatmen allseits. Wir machen eine neue Übung. Michael – 90 Kilo – sitzt auf einem Hocker, vier Personen versuchen ihn nur mit den Zeigefingern hochzuheben. Nichts passiert. Konzentriert euch, sagt Boustani. Wir müssen denken, dass wir es schaffen. Neuer Versuch, Michael saust förmlich zur Decke. Magie? Nein, sagt Boustani, nur euer Wille.
Es wird ernst. Ich frage zur Vorsicht noch mal, ob man sich etwas Bestimmtes vorstellen muss, nicht, dass ich doch verbrenne, weil ich eben an ein frisch gezapftes Flensburger gedacht habe. Nein, muss man nicht. Boustani studiert mit uns ein neues Lied ein, und wie sie so dirigiert, merkt man, dass sie früher Lehrerin war, Religion und Musik. Die Zulassung zum Religionsunterricht habe man ihr eines Tages abgenommen, erzählt sie später, wegen kirchenfremder Äußerungen im Unterricht. Man kann sich das vorstellen.
Es geht los. Wir schleppen Gummimatten und Teppiche ans Feuer, damit wir nachher keine kalten Füße bekommen. Die Feuerfrau recht die Kohlen zu einer Straße, gut zweieinhalb Meter lang. Boustani steht am Ende, sagt: „Ich fange euch hier auf.“ Wir müssen wieder singen – „I feel the moment“ -, und ich singe mir die Seele aus der Brust, auch wenn ich mir den Text nicht merken kann und mit Inbrunst falsche Worte schmettere. Die Feuerfrau läuft als Erste. Sie lebt noch, schreit nicht, lacht, fällt Boustani in die Arme. Uli hinterher, die Kinder, gleich zweimal, ihre Mutter, Monika. Und ich singe und singe „I feel the moment“ und kann gar nicht mehr aufhören zu singen, bis ich mich endlich an die Startposition schleiche. Soll ich gehen? Rennen? Lieber doch an ein Nilpferd denken? „I feel the moment“ – zwei Meter glühende Kohlen, hinten im Dunkeln Boustani, die mit klarer Stimme singt wie eine Chorleiterin. Und plötzlich plumpse ich ihr in die Arme. Alles vorbei, geschafft, überlebt.
Ich wage es noch ein zweites Mal, ein bisschen langsamer, besonnener, und wieder klappt es. Kein Gefühl in den Füßen, nicht einmal Wärme, die man in der Eiseskälte gut gebrauchen könnte. Einfach laufen wie über einen Perserteppich, eine Badematte, den Küchenboden. Kann das sein? Ich versuche meine verschütteten Physikkenntnisse zu reaktivieren. 600, 800 Grad? Noch immer glühen einige der kleinen, flachen Kohlen, und ich stelle mir vor, welch satte Brandwunde man allein mit einer glimmenden Zigarette verursachen kann. Uli bleibt jetzt kühn mitten auf den Kohlen stehen. Nein, das kann nicht wahr sein – und es funktioniert doch.
Einträchtig gehen wir mit unseren schwarzen Füßen zurück ins Haus. Jetzt wird gefeiert, sagt Boustani, und wir legen ein weißes Tuch auf den Boden des Seminarraums, wo das Essen ausgebreitet wird. Oliven, Quark, Käse, Sekt zum Anstoßen. Im Schneidersitz hocken wir um die Speisen herum, hungrig, selig und sehr, sehr stolz. Eine friedliche, versöhnte Runde, trotz aller Fremdheit zusammengeschweißt und für einen Moment richtig glücklich.
Später müssen wir unseren letzten Zettel beschreiben, diesmal einen blauen. „Ich, Adrienne“, schreibe ich auf Anweisung, „bin durchs Feuer gelaufen. Ich kann alles tun, was ich gewählt habe zu tun.“ Für dieses Mal beschränke ich mich darauf, nur noch ins Hotel zu fahren. Und ich hinterlasse in dieser Nacht droben in Norddeutschland noch viele Nachrichten auf Mailboxen, dass ich es getan habe und dass ich ohne jede Brandwunde davongekommen bin. „Ich wasche meine Füße nicht“, hatten einige gesagt, weil die Kraft dann angeblich heftiger nachwirkt. Ich schrubbe sie trotzdem, um im Hotelbett keine schwarzen Spuren und keinen schlechten Eindruck zu hinterlassen.
Am 23. November 2002 bin ich durchs Feuer gelaufen. Seither warte ich. Päpstin bin ich noch nicht, aber dazu bräuchte es vermutlich mehrere Läufe. Für Wiederholungstäter kostet es bei Boustani nur noch 40 Euro, was im Vergleich zu anderen Anbietern übrigens richtig billig ist. Günstig genug, es wieder und wieder zu versuchen nach dem Motto: Wenn schon nicht Päpstin oder Chefin, dann kann man wenigstens draußen auf dem Acker ein bisschen stolz sein – die Bewunderung der anderen inklusive. Garantiert.
Stuttgarter Zeitung