Wer sich verweigert, gilt anderen gern als Spielverderber und Spaßbremse. Aber warum sind heute die schönsten Anlässe ohne einen guten Schluck nichts wert? Das Trinken erregt wie kaum ein anderes Thema die Gemüter. Es steckt voller Widersprüche, Mythen und Halbwahrheiten.
Von Adrienne Braun
Joschka Fischer hat es ja schon immer gewusst: „Der Bundestag ist eine unglaubliche Alkoholikerversammlung“, behauptete der Grünen-Politiker 1983. Natürlich hat ihm niemand geglaubt. Wer gibt schon gerne zu, Alkoholiker zu sein? Andreas Schockenhoff. Der CDU-Bundestagsabgeordnete hat kürzlich gestanden, dass er mit dem Alkohol ein Problem habe – oder vielmehr ohne. Er wird nun eine stationäre Therapie antreten. Die Kollegen reagierten verständnisvoll. „Das Eingeständnis seiner Alkoholerkrankung ist ein respektabler Schritt“, ließ die CDU wissen.
Problem? Krankheit? Therapie? Da hält man sich doch lieber an die Stadt Stuttgart, die auf ihrer Homepage das Weindorf so schön bewirbt, dass einem ganz wohlig wird: Von „Viertelesschlotzern“ ist da liebevoll die Rede. In den Weinlauben könne man es sich bei einem „vollmundigen Viertele gemütlich machen“. 250 badische und württembergische Weine stünden zur Auswahl, denn, heißt es weiter, „der Wein ist nach wie vor des Schwaben Nationalgetränk“. Das wusste schon Schiller: „Ein Wirtemberger ohne Wein/Kann der ein Wirtemberger sein?“ Na dann, Prosit.
Warum auch nicht? Alkohol gehört so selbstverständlich zum Alltag wie die Butter aufs Brot. Ein Gläschen zum Essen, zum Feierabend ein kühles Bier, zum Brunch gibt’s Prosecco, in der Sonne Spritz, zum Jubiläum Schampus, zum Vorglühen Wodka, zum Dessert Grappa. Kein Fest ohne Prozente, nach dem Motto: Im Himmel gibt’s kein Bier, drum trinken wir es hier. Erste Regel: hoch den Pegel.
Wie ist es um die Erlebnisfähigkeit einer Gesellschaft bestellt, die fast nur noch alkoholisiert Freude empfindet und in der Freizeitaktivitäten nur dann Genuss versprechen, wenn sie mit Alkohol erlebt werden? Offensichtlich scheint nichts mehr intensiv genug, um nüchtern glücklich zu machen. Feiern, Tanzen, Lachen, Sex, Essen, Spielen, Reden – bei allem muss Alkohol als Schmiermittel herhalten. Wir trinken, um feiern zu können. Und wir feiern, um trinken zu können.
Zwischen Leber und Milz passt immer noch ein Pils. Wer da nicht mithält, gilt als lust- und lebensfeindlich, als Spielverderber und Spaßbremse. Nichttrinker sind unangenehm, weil sie zwangsläufig als schlechtes Gewissen wahrgenommen werden. Deshalb wird die Absage nicht einfach hingenommen, sondern derjenige muss sich erklären, warum er sich den kollektiven Freuden verweigert.
Der soziale Druck, mitzutrinken, ist nicht zu unterschätzen. Bei den meisten Anlässen muss man um Alkoholfreies regelrecht betteln. Der ewigen Diskussionen und Kommentare müde, legen sich Antialkoholiker oder Menschen, die nicht bei jedem Anlass trinken wollen, zumeist eine griffige Ausrede zurecht wie Magenprobleme oder Beschwerden wegen der Wechseljahre. Die Wahrheit ist meist nicht salonfähig. Man spricht nicht über die Sorge, suchtgefährdet zu sein. Natürlich würde auch nie jemand sagen: „Ich will keine Funktionsstörungen und Veränderungen von Magen, Darm, Leber und Gehirn riskieren.“ Oder dass er nicht eines Tages zu den geschätzt 1,3 Millionen Süchtigen in Deutschland gehören will. Wer nicht trinkt, hält sich bedeckt. Das Thema ist emotional zu stark aufgeladen.
Es kursieren auffallend viele Mythen, Widersprüche und auch handfeste Lügen rund um das Thema, die aber gern – als Weisheiten verklausuliert – stur reproduziert werden: Zum Beispiel, dass Bier den Durst lösche – dabei wirkt Alkohol dehydrierend. Der Aperitif rege den Appetit an und der Digestif fördere die Verdauung. Auch das ist falsch, denn der Körper baut immer erst Giftstoffe ab – deshalb wird erst der Alkohol verdaut, während das Essen warten muss. Oder: mit Alkohol schlafe man gut. Stimmt nicht, man schläft vielleicht gut ein, aber da der Abbau des Alkohols Schwerstarbeit für den Körper ist, werden Tiefschlaf- und REM-Phase verkürzt und man wacht häufiger auf. Es stimmt: Alkohol wirkt zunächst sexuell stimulierend, nur leider schwächt er die Potenz.
Oft heißt es, die Jugend trinke immer mehr und immer exzessiver. Dabei ist das vielfach widerlegt worden. „Der regelmäßige Alkoholkonsum von Jugendlichen in Deutschland ist weiterhin rückläufig und hat im Jahr 2010 den niedrigsten Stand seit den 1970er Jahren erreicht“, heißt es im Drogenbericht des Bundesgesundheitsministeriums. Sogar das Rauschtrinken nehme ab. Aber das scheint für viele Erwachsene zum Phänomen zu gehören: die Probleme haben immer die anderen.
Auf Hawaii mag es kein Bier geben, hierzulande ist Alkohol in schier erschlagender Vielfalt erhältlich. Das Geschäft mit den Prozenten ist ein riesiger Wirtschaftsfaktor, der Staat verdient dank Alkoholsteuer kräftig mit. Indem in sämtlichen Läden und Märkten die Getränkeregale überquellen, wird gleichzeitig vermittelt, dass Alkohol so normal und nötig ist wie Milch und Waschpulver. Diese Sichtweise ist selbstverständlich für uns; sie gilt keineswegs für alle Kulturen dieser Erde. Anders als bei Zigaretten ist auch Werbung für alkoholische Getränke erlaubt – Vorstöße für eine Einschränkung sind immer wieder ins Leere gelaufen.
Aber es gibt eben nicht nur friedliche Viertelesschlotzer und schicke Aperol-Spritz-Trinker. Deshalb werden hierzulande Millionen in Anti-Alk-Kampagnen gesteckt, in Aktionstage und Prävention. Das ist der Alltag: Hier stechen Politiker auf dem Volksfest das Fass an, dort eilen sie zur neuen Aufklärungskampagne „Bist du stärker als der Alkohol?“ oder „Kenn dein Limit“. Minister lassen sich im Festzelt fotografieren, ihre Parteikollegen klagen tags darauf im Parlament über die Belastung des Gesundheitssystems durch Alkoholmissbrauch.
Tatsächlich sind die indirekten Kosten des Alkoholmissbrauchs enorm – durch Arbeitsunfähigkeit und Frühverrentung, durch Straftaten und alkoholbedingte Unfälle. Doch mit Ausnahme von Rumänien, Estland, Tschechien, Ungarn und der Slowakei darf man sich in Europa weiterhin alkoholisiert hinters Steuer setzen. Wenn hierzulande dann wieder einer sich und im schlimmsten Fall andere im Rausch zu Tode gefahren hat, was trotz Führerschein auf Probe und Nullpromillgrenze für Fahranfänger weiterhin häufig passiert, dann ist die Betroffenheit meistens groß. Da habe einer mit dem Alkohol wohl nicht richtig umgehen können, heißt es erschüttert.
Wie soll er es auch – in einer Gesellschaft, die der entscheidenden Frage stoisch aus dem Weg geht: Warum trinken fast sechs Millionen Bundesbürger im berufsfähigen Alter jeden Tag mehr als die gesundheitlich unbedenkliche Menge von zwanzig (Frauen) beziehungsweise dreißig Gramm (Männer) reinen Alkohol? Wie schafft es eine Gesellschaft, sich kollektiv in die Tasche zu lügen und Widersprüche einfach zu verdrängen? Bei keinem Thema erlauben wir uns ein so paradoxes Verhalten.
Alkohol gibt es in fast allen Kulturen. „Nunc est bibendum“, prostet schon Horaz in einer Ode dem Leser zu. In der Bibel steht: „Der Wein erfreue des Menschen Herz.“ Alkohol gehört zum Sabbatritual und zur Hochzeit. Zu allen Zeiten wurde getrunken. Deshalb schrieben Matthias Claudius, Lessing oder Goethe gern Trinklieder, quasi die Vorläufer zu „Heute blau, morgen blau“ oder „Schnaps, das war sein letztes Wort/Dann trugen ihn die Englein fort“.
„Der Rausch war immer ein Thema für die Menschheit, als eine Art Ausstieg aus dem Alltag“, meint die Psychologin Brigitte Veiz, die seit Jahren das Münchner Oktoberfest studiert. Die Wiesn sei ein „dionysisches Fest“, sagt sie, „ein kollektiver Erregungszustand, verbunden mit dem Gefühl der Glückseligkeit“. In unserer Leistungsgesellschaft ist der Druck enorm. Der Alkohol scheint ein probates Mittel, ihm zu entkommen. Man begibt sich in eine Art Ausnahmezustand; Gefühle werden intensiviert, allerdings auch negative. In der Regel macht Alkohol aber glücklich, da Dopamin freigesetzt wird. Bei Männern werden mehr Glückshormone ausgeschüttet, deshalb trinken sie häufiger und mehr. »
Stuttgarter Zeitung, 2011