Begegnung mit Doris Dörrie

„Menschen ohne Brüche gibt es doch gar nicht“

Sie schreibt, sie dreht, sie unterrichtet Filmstudenten. Doris Dörrie ist eine Frau, die nicht nur Geschichten erzählen kann, sondern sie hat auch etwas zu sagen. Auf Lesereise mit ihrem neuen Roman ‚Diebe und Vampire‘ hat sie Station in Stuttgart gemacht und verrät im Interview, was sie von Berlin, Veganern und der Jugend von heute hält.

Frau Dörrie, darf man sagen, dass Sie im Mai sechzig geworden sind?

Natürlich kann man das sagen, ich kann es ja nicht verbergen. Wobei ich meinen gesamten Geburtstag im Flugzeug von Japan zurück nach Deutschland verbracht habe – und somit 31 Stunden Geburtstag hatte.

Verändert sich mit zunehmendem Alter Ihre Rolle in der Gesellschaft?

Ich werde einen Teufel tun, über meine Rolle nachzudenken. Wenn man als öffentliche Person versucht, die Außenwahrnehmung einzukalkulieren, ist man verratzt. Natürlich versuchen viele Prominente, das zu kontrollieren, ihr Bild zu inszenieren. Das klappt in the long run aber nie.

Werden Sie schon altersweise?

Nur die Jungen glauben, dass die Alten weise sind. Man hat nicht ein Alter. Morgens wacht man auf und fühlt sich wie hundert, im nächsten Moment will man sich am liebsten auf die Erde schmeißen und schreien, als wäre man zwei. Man geht ständig durch alle Altersstufen hindurch. Die Vorstellung, dass man eine fixe Identität und ein fixes Alter hat, ist falsch.

Gibt es eine Generation, zu der Sie sich zugehörig fühlen?

Ich finde solche Zuordnungen sehr willkürlich. Ich war beeinflusst von den Leuten neben mir, vor mir, nach mir, das ist ein fließender Prozess. Aber entscheidend für die Zeit, in der ich aufgewachsen bin, waren die Erfindung der Pille und die neue sexuelle Freiheit. Wir waren die erste oder zweite Generation, die auch frei entscheiden konnte, wie sie leben will.

Sie kommen aus einem liberalen Elternhaus. Mussten Sie sich abkämpfen?

Nein, meine Eltern haben erstaunliches Vertrauen in ihre Kinder gehabt. Später hat mir mein Vater erzählt, dass sie durchaus Angst hatten, dass ich Filme machen wollte. Aber sie haben uns gelassen.

Sie haben eine Tochter. Unterscheidet sich deren Art, auf die Welt zu schauen?

Ich habe viel Kontakt zu jungen Leuten, weil ich seit 17 Jahren Professorin bin. Diese Freiheit der Möglichkeiten ist einem Druck gewichen, sich entscheiden zu müssen, weil einen sonst alle andere überholen. Auch der Zwang, etwas darzustellen, ist extrem.

Sie haben schon als Kind mit Ihren Schwestern Theater gespielt. Woher kommt diese Lust, Geschichten zu erzählen?

Keine Ahnung. Bei vielen Schriftstellern steckt eine tiefe Verunsicherung dahinter, dass nichts so stabil ist, wie man als Kind dachte. Dass nichts bleibt, ist für viele ein Antrieb zu einer künstlerischen Tätigkeit. Es ist der Versuch, Ordnung in die Welt zu bringen, etwas zu begreifen, das am Ende vielleicht nicht zu begreifen ist.

Verbindet etwas all Ihre Arbeiten?

Ich kann das nicht sagen, weil ich nicht den Blick habe auf das, was ich mache.

Vielleicht, dass Ihre Figuren Brüche haben?

Andere gibt es doch gar nicht. Mich interessiert, wie wir Menschen das mit dem Leben schaffen, wie wir manches verdrängen, tapfer sind, wann wir zusammenbrechen. Das beinhaltet auch Komik.

‚Männer‘ hatte fünf Millionen Zuschauer. Halten Sie ihn für Ihren besten Film?

Nö, es ist sicher nicht meine beste Arbeit, aber saukomisch, es war ‚Fuck Ju Göhte‘ der Zeit. So ein großer Erfolg lässt sich nicht kalkulieren und ist die Ausnahme.

Ist es Ihnen schon passiert, dass Sie sich erst durch die Reaktion des Publikums erst richtig bewusst wurden, was Sie gemacht haben?

Oft bin ich verblüfft und angerührt, wenn mir die Leute erzählen, was die Filme für sie in ihrem Leben bedeutet haben. Ich kann es nicht darauf anlegen, aber diesen Effekt zu haben, ist etwas sehr Schönes.

Einige fanden Ihren TV-Mehrteiler ‚Klimawechsel‘ gar nicht lustig. Überlegen Sie vorher, ob Sie jemandem auf die Füße treten?

Wem sollte ich auf die Füße treten? Frauen allgemein? Das ist totaler Schmarrn. ‚Klimawechsel‘ war der Versuch, offen und sehr komisch mit den Wechseljahren umzugehen. Wer da beleidigt war, hat wirklich sehr wenig Humor, tut mir leid.

Ihr neues Buch ‚Diebe und Vampire‘ handelt von literarischen Vorbildern. Haben Sie das Gefühl, dass man als Autorin oder Filmemacherin immer klaut?

Natürlich klaut man ständig, weil es gar nicht anders möglich ist. Anders kann das Gehirn gar nicht funktionieren. Es ist wichtig, sich darüber im Klaren zu sein, dass man niemals originär schafft, sondern die Summer vieler Teile ist.

Sie leben in München. Warum nicht im hippen Berlin?

Ich liebe München, weil ich dort etwas gefunden habe, was Berlin nicht hat: eine Art Biergartenphilosophie. In München sitzt an einer Bierbank die Prinzessin neben einem 17-jährigen Arbeitslosen neben einem Bauern neben einer Filmhochschülerin. Dieser Biergartenanarchismus ist erstaunlich liberal. Berlin ist sehr dogmatisch, wenn ich da nicht die richtige Mütze aufhabe, gehöre ich nicht dazu. Berlin ist wahnsinnig kleinbürgerlich.

Sie haben immer wieder in Japan gedreht, zuletzt in Fukushima. Warum dort?

Es hat dort niemand bisher einen Spielfilm gemacht. Ich war das erste Mal kurz nach der Katastrophe dort und war schockiert, was passiert ist, und auch von den Notunterkünften, die es bis heute noch gibt. Es hat sich nichts getan, die Landschaft ist verwüstet. Der Ministerpräsident will wieder ans Netz gehen. Es ist eine Katastrophe.

War es denn nicht gefährlich, direkt vor Ort zu drehen?

Wir haben zehn Kilometer vom Reaktor entfernt gedreht, wo die Strahlung in der Luft geringer ist als die durchschnittliche Strahlung in München. Man kann sich dort aufhalten, sollte aber nicht im Boden graben. Wir haben den Drehort jeden Tag mit dem Geigerzähler vermessen, aber die Wunden, die dem Land und den Menschen zugefügt wurden, sind etwas ganz anderes.

Sie sind eine der wichtigsten Regisseurinnen im Land, sind Autorin und Professorin. Ihre Biografie klingt sehr erfolgreich.

Es ist nicht so, dass jedes Buch und jeder Film, den ich mache, ein totaler Knaller ist. Entscheidend für mich ist am Ende aber auch nicht der Kassenerfolg oder der Bestseller, sondern ob ich geschafft habe, was ich wollte.

Sie engagieren sich bei Pro Quote Regie.

Zähneknirschend und murrend. Als ich an der Filmhochschule war, hätte ich nicht geglaubt, dass ich mich jemals noch mit dem Thema beschäftigen müsste. Keine Frau findet die Quote super, aber man braucht sie, damit sich etwas ändert. Wenn etwas ungerecht ist, muss man etwas tun.

Zum Schluss noch eine Frage: Es gibt eigentlich kaum einen Promi, der sich derzeit nicht als Veganer outet. Wie ist das bei Ihnen?

Ich esse alles, weil ich so neugierig bin. Aber das Thema ist interessant, weil es so viele Aspekte hat. Jedes Lebensmittel hat viele politische Aspekte. Wenn man diesen Keks zum Kaffee anschaut: Wer stellt die Zutaten her? Es ist zum Beispiel Palmöl darin, wo kommt das her? Welche Wälder sind für die Plantage gerodet worden, wer hat deshalb seine Heimat verloren? Man kann wie mit einem Zoom in jedem Lebensmittel eine unendliche Verkettung politischer und ökonomischer Zusammenhänge entdecken. Sich dazu bewusst zu verhalten ist absolut notwendig.

Trotzdem essen Sie alles?

Aus diätischen Gründen finde ich die vegane Bewegung ein bisschen zickig. Solange so viele Menschen Hunger leiden, sollte man sich nicht so viel um sich selbst drehen. Interessant ist aber, wie wir uns aus Angst auf magisches Denken kaprizieren – wie bei Gluten, das nicht politisch ist: Wenn ich nie wieder Weizen esse, wird alles gut, wenn ich nie wieder Semmeln esse, bleibe ich ewig jung und schön! Das wäre doch super. Nein, ich esse alles und habe nicht mal eine Allergie. Wahrscheinlich bin ich der langweiligste Mensch auf der Welt!

Das Gespräch führte Adrienne Braun.

Stuttgarter Zeitung, 21.November 2015

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