Das Lieblingswort von Christian Grey ist: „Ficken“. Wenn er es sagt, und er gebraucht es sehr, sehr oft, folgt im Nachgang: „hart“. Womit die Grenzen schon abgesteckt sind. In ‚Fifty Shades of Grey‚ geht es nicht um Blümchensex und Missionarsstellung, nicht um zarte Erotik und subtiles Erleben, sondern um grobe Lust und harte Schläge. „Mein Geschmack“, sagt Grey, „ist sehr speziell.“
Trotzdem scheint sein spezieller Geschmack viele Menschen sehr zu interessieren. Vor sechs Jahren veröffentlichte die damals noch gänzlich unbekannte Fernsehproduzentin Erika Leonard im Internet die Erzählung über eine sadomasochistische Beziehung. 2011 erschien unter dem Pseudonym E. L. James das Buch „Fifty Shades of Grey“, das nicht nur den Buchmarkt erschütterte, sondern weltweit Debatten auslöste, Jubel- und vielleicht auch Lustschreie, Empörung, Analysen, Abscheu. Kaum ein Buch hat weltweit so viel Aufsehen erregt wie „Fifty Shades of Grey“.
Nun kommt die Verfilmung des Romans in die Kinos – und es lässt sich die lange Liste der Superlative erneut fortschreiben. 100 Millionen Bücher wurden weltweit verkauft, in Deutschland waren es allein 10 Millionen. Die „Mutter aller Bestseller“ wurde in 37 Sprachen übersetzt, ist in 51 Ländern erschienen und kurbelte ganz nebenbei den Markt für E-Books an. Bereits der Trailer zum Film wurde 46 Millionen Mal abgerufen, es sollen mehr Tickets für die Kinovorstellungen der nächsten Wochen reserviert worden sein als je für einen neuen „James Bond“ oder „Der Herr der Ringe“. Warum aber so ein enormer Hype? Hat E. L. James endlich das salonfähig gemacht, was sich die Menschheit wünscht: Sex mit Fesseln, Peitschen und Augenbinde? Macht, Kontrolle, Abhängigkeit? Können sich dank „Fifty Shades of Grey“ jetzt endlich Millionen von Menschen zu dem bekennen, was sie immer schon wollten, nämlich BDSM, wie es offiziell heißt: Bondage & Discipline, Dominance & Submission, Sadism & Masochism?
Sicher ist: wäre dieser Christian Grey, der die Studentin Ana unterwirft, ein durchschnittlicher Kerl mit Bierbauch und Bartstoppeln, mit einem Job beim Paketdienst oder auf dem Amt, es würde sich kaum jemand interessieren für die knapp 2000 Buchseiten. Christian aber ist Firmenbesitzer und Millionär. Er spielt „atemberaubend“ Klavier, wie Ana feststellt, ist ein Adonis mit Waschbrettbauch und „ganz langen Wimpern“. Er besitzt, natürlich, einen Hubschrauber und eine Badewanne aus weißem Marmor. Kurz: hier peitscht kein Mann, wie man ihn im Supermarkt oder am heimischen Tisch treffen kann. Hier peitscht ein Gott höchstpersönlich.
Die Romantrilogie ist letztlich die Fortschreibung der Arzt- und Groschenromane früherer Jahrzehnte – und aus literarischer Sicht mindestens so lausig geschrieben wie diese. Trotzdem hat E. L. James offensichtlich einen Nerv getroffen – weil sie die alte, schmerzliche Frage aufwirft, ob Frauen vielleicht doch vom Mann dominiert sein wollen.
Achtzig Prozent der Leser sind Frauen. Das genügt vielen als Argument: Ja, Frau will also wirklich einen starken Mann, der nicht nur „hart fickt“, sondern sich die Frau auch untertan macht. Grey zumindest übernimmt die Verantwortung für Anas „Wohlergehen und die angemessene Erziehung, Leitung und Disziplinierung“. Er legt bis ins Detail fest, was sie essen darf oder welchen Sport sie treibt. Alles vertraglich geregelt. Den 100 Millionen Leserinnen und Lesern und den Kinogängern der nächsten Monate wird man aber sicher nicht gerecht mit platten Klischees über dominante Männer und devote Frauen. Der Erfolg von „Fifty Shades of Grey“ liegt im Gegenteil darin, dass die Rollenzuweisungen hier keineswegs eindeutig sind. James hat alles andere als einen differenzierten Debattenbeitrag geliefert, aus dem man Substanzielles schließen könnte über die sexuellen Befindlichkeiten der heutigen Gesellschaft. Sie lässt sogar widersprüchlichste Interpretationen zu: Grey ist dominant und irgendwie auch schwach. Ana wird unterworfen, aber zugleich kann sie auch als die Stärkere betrachtet werden.
Diese Offenheit hat kuriose Phänomene hervorgebracht: So hat ausgerechnet die Feministin Alice Schwarzer dem Werk die Absolution erteilt. In dem „Unterhaltungsroman“ werde die „Frau nie zum passiven Objekt degradiert“, die domestizierte „Sub“ sei also „eher emanzipiert“. Und während Medien die neue Lust an Sadomasochismus postulieren – „schlecht ist geil“ -, winken BDSM-Experten ab. „Shades of Grey“ habe nichts mit „echter“ SM-Kultur zu tun.
So ist E. L. James eines gelungen: ihr kitschiges Märchen lässt viel Platz für Fantasien und Projektionen, befriedigt widersprüchlichste Begierden. Man könnte „Fifty Shades of Grey“ sogar als Anti-SM-Roman lesen, in dem Aschenputtel einen Mann von seiner kaputten Sexualität erlösen will – und die Sexspiele nur erduldet, damit sie den reichen Mann erobert und es zum bürgerlichen Happy End kommt. Wie schon im Märchen – wo die Frau aus der Kröte einen Prinzen macht.
Stuttgarter Zeitung, 11.Februar 2015